Ernte - oder die Balance von Geben und Nehmen

eigene Ernte fotografiert von Gunther Martin

Nun ist er richtig da der Herbst. Die Luft ist anders als noch vor zwei Wochen, feuchter, erdiger, nach Moos und herben Holznoten riechend. Ich mag ihn, den Herbst, ich mag das Gemütliche, ich mag die Fülle der Farben. Gerade schaue ich in meinen Garten und ich kann gar nicht genug bekommen vom ganz besonderen Leuchten der allerallerletzten Blüten, so als würden sie sich nochmal richtig alle Mühe geben.

Und ich mag die Ernte. Ernte ist Leben. Ernte ist die Belohnung für etwas, was im Vorfeld gut und richtig gemacht wurde. Ich mag es auch deswegen, weil es immerwährend ist. Ein Rhythmus, der sein Tempo hat, der auch nicht mit noch so viel Wollen beschleunigt werden kann. Ernten kann man nur, wenn man sich gekümmert hat, wenn man etwas ins System gegeben hat. Ernte basiert auf dem systemischen Gleichgewicht von Geben und Nehmen.

„Wer es fertig bringt zwei Halme wachsen zu lassen, wo bisher nur einer wächst, der ist größer als der größte Feldherr.“ Dieses Zitat stammt von Friedrich dem Großen.

Ich bin ja nicht nur Gärtnerin, ich bin auch Menschenmensch. Und ich bin immer wieder am Denken und Ausprobieren, wie aus wenig, mehr werden kann. Dieses Mehr entsteht natürlich im persönlichen Wachsen, aber auch immer wieder in der Zusammenarbeit. Hier entscheidet sich, ob die kollektive Intelligenz wirksam wird. Dieses Mehr setzt eine klare Entscheidung voraus, nämlich für die grundsätzliche Bereitschaft des Gebens.

Ich habe mal gelesen, dass wir alle unbewusst darüber Buch führen, wie wir mit unserem jeweiligem Umfeld gerade stehen – im Haben oder im Soll? Jede/r weiß also zu Jeder/m, wie die Bilanz der Beziehung in jedem Moment aussieht. Wenn das Konto über die Zeit nicht immer mal wieder ausgeglichen wird, wird das die Fortdauer der Beziehung gefährden, bzw. die Vitalität, die Leichtigkeit im Miteinander beeinflussen. Nur wenn Geben und Nehmen ausgeglichen sind, ist man mit sich und den anderen im Reinen.

Es liegt auf der Hand, dass das, was als gerecht und ausgeglichen empfunden wird, durchaus unterschiedlich bewertet werden kann. So kennt wohl jede/r im eigenen Umfeld Menschen, die einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn zu haben scheinen. Ich erlebe es jedoch auch so, dass manche es (zu) oft thematisieren, weil sie sich immer wieder benachteiligt fühlen, Gerechtigkeit mahnen, um auf das eigene zu-kurz-kommen aufmerksam zu machen. Ja es gibt sie, diese Menschen, die aus einem Mangel heraus in die Welt schauen. Ein Mangel an Aufmerksamkeit, Vertrauen, die denkbare Mangelliste ist lang. Ausgleich mit so tickenden Menschen herzustellen ist fast unmöglich. Ich habe Mitgefühl, denn ich stelle es mir so unglaublich anstrengend vor. Innerlich schwanke ich dann zwischen Schütteln-wollen und in den Arm nehmen.

Adam Grant kommt in seinem Buch „give and take“ zu dem – für mich nicht erstaunlichen – Schluss, langfristig erfolgreicher seien die Geber. „Mit Großzügigkeit helfen, ohne an Vergeltung zu denken; frag aber auch oft, wann immer du es brauchst.“ Helm Stierlin bezeichnet es sogar als „Reichwerden durch Geben“. Guter Gedanke, oder? Was natürlich auch auf der Hand liegt, jeder Geber muss auch nehmen können.

Ich bin tief überzeugt, dass dieses Bilanz-ziehen auch im Job passiert, nicht nur mit den Menschen im unmittelbaren Umfeld, sondern auch abwägend mit dem Unternehmen. Auch dort können Erwartungen übererfüllt oder enttäuscht werden. Als Organisationsentwicklerin habe ich schon früh gelernt, dass es wichtig ist, auf das Murren zu hören. Nicht jedes Meckern ernst nehmen, aber sensibel bleiben.

Wie sind wir, wir als Menschen im Miteinander? Jeder kann wählen, welche Art wir sein wollen – ein Nehmer oder ein Geber. Das zeigt sich in jeder Interaktion. Konzentrieren wir uns eher auf den unmittelbaren Nutzen oder vertrauen wir darauf, dass sich der Ausgleich irgendwann einstellt?  Katharine Hepburn befand, dass „Liebe ist nicht das was man erwartet zu bekommen, sondern da was man bereit ist zu geben.“

Das systemische Prinzip von Geben und Nehmen gilt überall. Alles Lebendige unterliegt dieser empfindlichen Balance. In der Natur, in Familien, in Freundschaften, in Netzwerken, in Unternehmen, in Gesellschaften. Überall wollen und müssen wir ernten können. Ins System investieren und für ein gutes Wachsklima sorgen. Ausreichend Sonne, Wasser, Dünger, Zeit… Nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig. Genau hinschauen, denn manchmal wächst auch etwas, was nicht geplant, aber dennoch wertvoll ist.

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