Ich bin komplett unperfekt

Foto von Gunther Martin

Wahrscheinlich kennt jede und jeder das Bedürfnis, eigentlich besser sein zu wollen: schlanker, sportlicher, erfolgreicher, liebenswerter, gelassener…

Die perfekte Welt von Instagram fördert das, das weiß jeder. Auch wenn die schillernde Welt der Celebrities mich nicht mehr beeindrucken kann, kommt es schon mal vor, dass ein kleines neidisches Stimmchen in mir plappert, wenn ich perfekte Yogabodies sehe (obwohl mir natürlich klar ist, dass ich ja mehr Yoga machen könnte), oder wenn ich sehe, dass Kollegen sich ein erfolgreiches Nebenbusiness aufbauen und sich damit einen Traum erfüllen.

Mit den Jahren der Selbstentwicklung kann ich mich selbst immer besser annehmen in meiner eigenen Durchschnittlichkeit. Haare, die stets und ständig unperfekt aus dem Haargummi rutschen, Make-up, das nie perfekt ist, weil ich es gar nicht kann, mich perfekt zu schminken. … Mein Englisch, das viel besser sein sollte, meine fehlende Liebe für saubere Ablage… all diese Unperfektheiten habe ich inzwischen akzeptiert. Von denen, mit denen ich immer noch hadere, schweige ich hier.

Unperfekt sei ohnehin des neue perfekt habe ich gelesen. So ein Mantra würde ich manchen Mitmenschen gerne in Dauerschleife in den Kopf setzen. Denn es gibt sie ja, diejenigen, die ich als Perfektionisten bezeichnen würde. Solche, denen der Pragmatismus von „jetzt reicht es aus“ einfach zu fehlen scheint. Wobei ich dabei zwei Typen unterscheide: Diejenigen, die aus intrinsischer Motivation heraus die eigene Leistungslatte immer etwas höher legen und daran wachsen (aber auch manchmal trotzdem ziemlich nerven können 😊). Erfolgreiche und starke Typen. Und dann gibt es diejenigen, die angetrieben von einem Bedürfnis „gut dastehen“ zu wollen, immer wieder in eine Spirale von viel zu viel Arbeit, Stress geraten. Ich habe Mitgefühl mit denjenigen, denn es ist so verdammt schwer und anstrengend, diesen perfekten Zustand zu erzeugen, bzw. zu halten. Eigentlich unmöglich. Schon beim Zuschauen ist es anstrengend, in der Führung noch mehr. Die Ansage, dass dieser Foliensatz jetzt wirklich ausreichend sei, verhallt. Die Aufforderung, dass dieser Extraprozess zu viel des Guten, die Extraexcell… was soll ich sagen. Anstrengend. Ich will mich da gar nicht zum Maßstab machen, denn ich bin erkannter maßen total unperfekt. Aber wenn Führung zur Selbstführung befähigen soll, dann ist das ein relevanter Punkt.

Jedes Kind braucht für ein gesundes Aufwachsen die Möglichkeit sich nicht ständig schlecht zu fühlen. Der permanente und immer abrufbare Vergleich macht das schwer. Die Verantwortung dafür, müssen wahrscheinlich die Eltern übernehmen. Wer aber soll und kann Hilfestellung geben, wenn Mitmenschen immer wieder in der Perfektionistenfalle festhängen. Es ist ja nicht nur so, dass sie sich selbst quälen, sondern manchmal auch ihr Umfeld. Der erste Schritt könnte ein Erkennen des eigenen Perfektionsmusters sein. Schwer genug. Aber ein zu hoher Anspruch an das eigene Ergebnis, ob Arbeit, Aussehen, sportlicher Leistung… ist selbstschädigend, kostet Lebensqualität und vor allem Leichtigkeit. Wenn Selbsterkenntnis noch zu schwer ist, dann können und müssen manchmal Chefs, Freunde, Kollegen hilfreich stupsen.

Der wundervolle Text von Julia Engelmann „ich bin kein süßes Mäuschen, keine Prinzessin, keine Diva, …, unter den weißen Pudeln eher der Golden Retriever... manchmal wäre ich gerne zarter… ich bin komplett unperfekt“, hat mich schon bei ersten Lesen schmunzeln lassen und es in mein Weisheitsbuch gefunden.

Vielleicht kann man was lernen von der japanischen Kunst Kintsugi, dort werden kaputte Dinge mit Gold repariert, und somit die Schönheit im Unvollkommenen betont. Die Schönheit im Unvollkommenen… Diese Worte berühren mich sehr, erzeugen ein unmittelbares Lächeln. Die Schönheit im Unvollkommenen durch eine einzigartige Kombination aus Stärken und auch Schwächen, Eigenarten, so-sein. Etwas Gold drauf, das Erkennen der Schönheit darin, was für ein schöner Blickwinkel…

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