Sanftheit und Stärke

Foto von Gunther Martin

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Was mir ans Herz wächst, bekommt einen Namen – egal ob Sauerteig oder Tiere. Bei Haustieren sicherlich üblich, aber wie sieht es bei euch mit Gartenbesuchern aus? Wir hatten unter vielen anderen ein Eichhörnchen, eine Krähe und Frau Waldemar. Frau Waldemar ist auf meinen Charts ganz oben. Sie ist eine Amselfrau, die wirklich unverwechselbar und bemerkenswert aussieht. Ihr Federkleid ist zerrupft, wie ein verfilzter Pelzmantel, oder einer, der mit Mottenfraß zu lange auf dem Dachboden verstaut war. Frau Waldemar ist ganz gewiss nicht die schönste Vögelin, aber ganz gewiss die Selbstbewussteste. Ich muss dieses Bild einfach unbedingt mit euch teilen:

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Ihr Mann Heino hat nicht viel zu melden, dass sieht man sofort. Sie trägt die Hosen in der Beziehung. Frau Waldemar hat mein Herz im Sturm erobert, vielleicht, weil ich coole, starke Frauen einfach so sehr schätze. Coole, starke Frauen sind für mich welche, die wissen, wer und was sie sind, und die deswegen ihren Selbstwert aus sich, und nicht aus der Bewertung anderer ziehen. So ist Frau Waldemar. Woher ich das weiß? Ich beobachte sie, mit wachsender Freude.

Was ich daran selber bemerkenswert finde, dass ich hier über einen Vogel schreibe. Vögel waren für mich noch vor wenigen Jahren die nahezu langweiligsten Tiere überhaupt. Tauben erkannte ich und Möwen auch. Alles andere war entweder klein oder groß, auf alle Fälle egal. Mit Ausnahme der Vogelhochzeit von Rolf Zukowski, die seinerzeit in Dauerschleife bei uns lief, „immer nur brüten, brüten, brüten…“, konnte ich mir keine positive Emotion für Vögel abringen. Vogelinteressierte fielen bei mir eher in die Schublade Nerd. Älteres Semester, beigegraue Windjacken, Fernglas, weltfremd… (ja, ich weiß, das ist nicht nett, ich entschuldige mich auch jetzt schon).

Seit einigen wenigen Jahren stelle ich bei mir ein erstaunliches, wachsendes Interesse fest. Ich habe mir sogar ein Buch gekauft, so eines für Dummies, denn die Abbildungen sind lebensgroß und das macht die Bestimmung leichter. Manchmal beobachte ich mich selber und könnte schmunzeln, wie sehr ich Zeit und Raum vergessen kann, beim Beobachten des tierischen Lebens. In meinem Garten oder im Wald sitzen, nur sein und Vögel beobachten – ganz wunderbar.

Garten und Pflanzen, das war schon immer Meins. Freude an der Schönheit von Pflanzen, an gelungenen Kompositionen, dem Duft von Blumen und Bäumen. Garten und Tiere, das ist ziemlich neu – und ziemlich cool. So sitze ich eben in diesem Moment draußen und genieße ein sehr lautes Vogelkonzert. Es ist, so würde ich sagen wollen, eine „laute Stille“, eine Symphonie der Natur – in Abwesenheit jeglicher Alltagsgeräusche. Die kleinen Freuden können für mich immer mehr ganz große werden. Stillsitzen und nacheinander alle Sinne zu beobachten: Nur hören… nur riechen… nur den Wind auf der Haut wahrnehmen… Ein schönes Achtsamkeitstraining …

Neulich morgens habe ich bei einer sehr schönen Zoom-Meditation einer lieben Freundin mitgemacht, die übrigens auch eine ganz coole, starke Frau ist. Freude war das Thema. Und sie sprach auch von der tiefen Freude die Natur zu erleben, ein Teil derer zu sein. Das hat mich sehr berührt, denn ich empfand es wirklich so, nämlich eine tiefe Freude und Dankbarkeit dafür, schöne Natur intensiv zu erleben und mich davon so berühren zu lassen. Neulich habe ich Fischadler gesehen, wie sie majestätisch hoch nach oben kreisten, und einen, so hübschen knallgelben Goldammer (ja, selbst bestimmt mit meinem Buch). Wusstet ihr, dass ein Fitis nur 8 Gramm wiegt, mit Fragezeichen pfeift (das Ende jedes Pfiffs klingt wie eine Frage) und 12000 Kilometer weit fliegen kann? Also, ich wusste es nicht und ich empfinde es wirklich als Wunder. Ebenso, einen Specht bei der Arbeit zu beobachten, oder eine Amsel, die im Laufe eines Tages einen großen Laubhaufen umbaut… Vogelfreunde mögen jetzt amüsiert grinsen, „das wissen wir schon lange…“. Ich denke mir aber, lieber spät als nie.

Gerade erst habe ich gelesen, dass immer mehr Menschen wieder gerne mehr in der Natur leben möchten. Corona befeuert diesen Trend natürlich. Ob er anhält, wenn Geschäfte und Cafés wieder ziehen? Es bleibt abzuwarten. Ich bin sicher, meine Liebe bleibt. Ich glaube, diese stillen, einfachen aber so zauberhaften Freuden helfen mir, noch mehr Sanftheit und gleichzeitig Coolness und Stärke zu entwickeln. Ich glaube, ich möchte alle drei Qualitäten noch stärker ausprägen. Bei mir sein, in der goldenen Mitte. Gut mit mir und meinem Umfeld. Danke Frau Waldemar – du cooles Geschöpf.

PS: Übrigens glaube ich, dass es auch für Männer funktionieren kann. Was meint ihr?


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