Schnittstellen

Foto von Gunther Martin

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Gestern bin ich auf meiner Laufrunde an einer langen Reihe frisch geschnittener Pappeln entlanggekommen. Alle Bäume waren bis auf den Stumpf gekürzt, ohne auch nur einen kleinen verbliebenen Ast. Was fast ein bisschen nach Kahlschlag aussah, wirkte gleichzeitig richtig, grundlegend und gesund. Ganz offenbar waren hier echte Könner am Werk gewesen.

Jeder Gärtner weiß es, dass ein sauberer Schnitt, gesetzt von einer scharfen Klinge, am gesündesten ist. Eine frisch geschnittene Rose hält länger in der Vase, der gekonnte Obstbaumschnitt fördert Blüte und Ernte. Als guter Gärtner hat man immer eine gute Schere in der Hand und schneidet hier und da… statt abzubrechen. Auch in der Medizin weiß man, dass eine saubere Schnittwunde am schnellsten heilt, weil so am wenigsten Gewebe beschädigt wird.

Ein sauberer und gekonnter Schnitt ist wichtig in vielen Lebensbereichen, so haben wohl viele Menschen zu ihrem Friseur eine vertrauensvollere Beziehung als zu manchem Familienmitglied. Auch ein Schneider weiß, dass aus einem schlecht geschnittenen Stück Stoff nur noch Mist werden kann.

Ja, die Schnitte und die Schnittstellen… Im Leben tun wir uns oft schwer, mit diesen gesunden Schnitten. Da hängt man in ungesunden Freundschaften, toxischen Beziehungen oder an Jobs, die nicht mehr gut sind. Ich habe dafür mehr als viel Verständnis, denn mein Motto ist sehr oft, dass das Gras auf der anderen Seite des Zaunes nicht grüner ist.

So beobachte ich aber auch ein gegenteiliges Verhalten, nämlich, sich schnell in etwas hineinzustürzen oder hinzuschmeißen – auch in den benannten Lebensbereichen.

Aber es gibt sie natürlich auch, diese Situationen, die wir nicht im Griff haben; Die schicksalhaften Veränderungen im Leben, die große Risswunden erzeugen. Die manchmal wahrhaft aus heiterem Himmel kommen können, sich manchmal aber auch ankündigen, und dennoch nicht mehr abzuwenden sind…. Oder einfach schon in der Luft lagen… Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es auch im Schrecklichen Schönheit gibt. Diese wahrzunehmen und herbeizuführen, das ist auch eine Entscheidung. Gerade ist ein Freund betroffen (ich glaube, deswegen ist mir dieser Einschub so wichtig). Trotz aller Fassungslosigkeit bin ich sicher, dass er dem Schicksal die Stirn geboten und der Zeit das Schönste abgerungen hat. Das war seine Entscheidung. Das ist die hohe Kunst des Lebens. Chapeau!

Zum Glück sind wir doch sehr oft und in vielen Bereichen des Lebens in der Lage zu entscheiden.

Wie findet man nun den richtigen Zeitpunkt, den, der impulsive Menschen zögern, harmoniebedürftige (ich nehme an, dass dieses Bedürfnis oft ein Grund für Zögern ist), in Aktion kommen lässt? Ich habe da keinen Rat, bin aber ganz sicher, dass die Antwort immer schon da ist. Die innere Stimme, die sich erst zart und dann fordernder meldet. Irgendwann kommt es, das EIGENTLICH. Eigentlich sollte ich/ könnte ich… Ein sehr guter Hinweis und ein guter Moment innezuhalten. Da „spricht“ etwas, dessen Stimme Gehör verdient. Dieses aufkommende Eigentlich kann natürlich ignoriert oder weggeschoben werden – aber es ist eine Chance, die dann ignoriert oder weggeschoben wird.

Nicht jedes „Eigentlich“ muss einen Schnitt bedeuten. Es ist jedoch ein klares Zeichen für eine anstehende Entscheidung. Jeder kennt seine Muster und kann es zum Anlass nehmen, nicht locker zu lassen. Den inneren Dialog beobachten, dem bevorzugten Handeln – Angriff, Flucht oder Starre – mehr Achtsamkeit zu gönnen. Dranbleiben ist sinnvoll, konstruktives Wägen, nicht gedankliches Kreiseln. Alle Intelligenzen (Kopf, Herz und Hand) einzubeziehen und dann zu entscheiden.

Das heißt dann, entweder das belastete Gewebe zu hegen und zu pflegen oder einen sauberen Schnitt zu machen. Eine liebevoll versorgte „Schwachstelle“ kann wieder gesunden, aber nicht, wenn das Gewebe schon zu belastet oder schwach ist. Dann lieber ein sauberer Schnitt.

Der gut geschnittene Baum wird viel schöner, die Blume hält sich länger und …

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