Seensucht

Foto von Gunther Martin

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Ich mag das Wasser, ich mag das Meer. Fast jedes Jahr verbrachten wir unseren Urlaub am Meer, ob im Süden, im Osten, im Westen, im Norden. Meer = Urlaub, diese Gleichung ging für mich immer auf. Vor 11 Jahren beschlossen wir, ausnahmsweise die oberitalienischen Seen zu besuchen, als Camper. Die Kombination aus Wasser und Bergen hätte gewiss einen Reiz, so meine Vorstellung. Was mich dann jedoch traf, war eine Art (neudeutscher) Schockverliebtheit.

Die oft gehörten Geschichten aus den 50er Jahren, als die Deutschen mit dem Fiat 500 oder der Isetta über die Alpen fuhren und die Region als „da fängt der Süden an“ erlebten, konnte ich gut verstehen. Zauberhafte kleine Ortschaften, so richtig italienisch aus touristischer Sicht, und dann diese Seen. Suchtauslösend. Meiner ist ja der Lago Maggiore.

Irgendwie hatte ich ziemlich schnell das Bedürfnis, mich gar nicht mehr als Touristin fühlen zu wollen. Ich wollte viel mehr ein klein wenig hier zu Hause sein. Jetzt nach 11 Jahren ist es ganz sicher so. Ich kenne mich aus, ich kenne die Orte, wo man dies oder das am besten erledigt, ich werde gegrüßt. Alles sehr fein.

Was mich aber immer, immer mehr erfüllt, das ist eine Demut. Ich habe über diesen Begriff lange nachgedacht, ob es der passende sei, aber er ist es: „Sie kann sich in der Zurücknahme vor einer übermächtigen Natur… zeigen.“ (S. Warwitz). Und genau so geht es mir hier.

Beim Wandern trifft man hier immer wieder auf alte Rusticosiedlungen, selten renoviert als Ferienhaus, oft verlassen. Ich stelle mir dann immer wieder vor, welch hartes Leben die Menschen hier früher hatten (und das früher geht nicht 100 Jahre zurück, sondern viel, viel weniger). Keine Straßen, keine Verbindungen der Ortschaften untereinander, viel Hunger. Kastanien als Hauptnahrung.

Ich spüre hier ganz stark eine besondere Verbindung zur Natur. Nicht nur zur Natur, die es natürlich zu schützen gilt, sondern spüre auch die Abhängigkeit oder manchmal die Notwendigkeit des Umgangs mit den Widrigkeiten.

Hier kann es z. B. regnen, unvorstellbar. Wie ein Vorhang kommen die Wassermassen vom Himmel. Und wie es dann in einer solchen Landschaft mit Bergen und Tälern und Flüssen so ist, da kommt ordentlich was zusammen und überschwemmt auch mal. So kann es auch passieren, dass da mal ein Hang abrutscht. So was kommt hier immer wieder mal vor. Ich mag mir nicht vorstellen, was bei uns los wäre, wenn eine Hauptader, die fast nicht zu umfahren ist, abgeschnitten wäre, über Monate. Hier organisiert man sich sehr zügig und pragmatisch, unaufgeregt – wenn auch ganz sicher nicht wortlos :-) - ist Natur, ist nicht zu ändern, was soll´s.

Hier gibt es nicht viel Fläche. Die Berge gehen fast in den See. Jede Straße, jedes bebaute Grundstück wurde der Natur unter großem technischen Aufwand abgerungen. Und so gehen auch alle damit um, jeder Quadratmeter wird genutzt, auch als Mikrogemüsegarten. Die Natur mit ihren Gegebenheiten prägt hier nicht nur die Menschen, sondern auch eine einzigartige Atmosphäre, die vor 100 Jahren schon Freigeister wie Hermann Hesse angezogen haben. Natürlich gibt es heute auch die Reichen und Schönen… aber die bleiben unter sich und stören mich nicht.

Es ist ein magischer Ort für mich, der mich ganz schnell ruhig werden lässt, der mir zeigt, wie klein ich bin, wie klein so viele Themen, die ich manchmal viel zu wichtig nehme. Bei mir führt das dann unmittelbar dazu, dass meine Lust, die ganze Welt zu sehen, schwindet. Er zeigt mir, wie wohltuend es ist, einfach nur zu sein. Einfach einen Ort in dieser Natur zu haben, mein Leben unaufgeregt zu leben. Essen zu richten, Freunde zu treffen, Zeit zum Lesen und Schreiben zu haben, Sport zu treiben, immer wieder – nichts tuend - auf diesen phantastischen See zu schauen… magisch. So erfüllt freie Zeit für mich ihren perfekten Zweck: Regeneration.

Immer wieder gibt es kleinere Dokumentationen im Fernsehen. Dank Mediathek entgeht mir da nichts. Jedes Mal überfällt mich diese Seensucht wieder hier zu sein, da wo der Süden anfängt, im Land in dem die Zitronen blühen… Inzwischen muss ich es leider schon extreme, schmerzliche Seenvermissung nennen... Auch diese Zeit geht vorbei... ach ja... Ich komme, ganz bald!

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Psychokram - (Vorsicht, könnte Spuren von Giftspritzern enthalten)

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