Die dritte Haut - oder: über die Wohnsucht

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Unsere Einrichtung sei unsere dritte Haut und damit ein relevanter Teil unseres Lebens und unseres Wohlbefindens. Das habe ich neulich gelesen und ich fand es sehr passend. Wohnen ist nah dran. Wohnen ist mehr als das in-einer-Wohnung-sein. Wohnen ist nichts Praktisches, Wohnen ist sinnlich. Ich gestehe, ich bin wohnsüchtig.

Seit ich denken kann, bereitet mir einrichten eine Riesenfreude. Bereits als Kleinkind baute ich Buden, mit allem Schnick und Schnack, mit Mamis Seidentüchern, mit Paps Schreibtischlampe, mit allem, was mir als im Moment wichtig erschien. Später waren es Zimmer oder Wohnungen, die immer wieder komplette Metamorphosen erlebten.

Wohnen berührt mich. Und jetzt, da ich es gelesen habe, ist es auch völlig klar, eine dritte Haut berührt natürlich.

Mich berühren auch andere Wohnungen. So ist es mir ein großer Spaß, im Dunklen durch die Stadt zu laufen und in andere Wohnungen zu luken. Und wenn ich da schönes Licht, eine einladende Atmosphäre sehe, dann würde ich stets am liebsten klingeln. „Hallo, ich möchte euch kennenlernen, denn wer so wohnt muss sympathisch sein“.

Neulich erst ist ein neuer Mensch in meinen Kreisen aufgetaucht, der mich gleich im zweiten Gespräch mit Video durch seine sehr sympathische Wohnung mitgenommen hat. Eine Geist-reiche, Mühe-volle, individuelle Einrichtung – seine dritte Haut – sagte so viel mehr über ihn, als er mir in vielen Gesprächen von sich hätte erzählen können. Mir gefällt es, wenn Wohnungen Geschichten erzählen. Wenn die Bilder nicht nur dekorative Farbkleckse sind, sondern z. B. gerahmte alte Leinensäcke aus Familienbesitz, dann mag ich das sehr. Ich wusste nach dem Rundgang gleich, dass wir Freunde werden würden.

Ich kenne es aber auch, dass total perfekte Wohnungen mich frieren lassen. Alles schön, wie im Katalog, perfekt arrangiert, das „herumliegende“ Buch ein Dekoobjekt, der Blumenstrauß passend zum Nagellack.

Das ist nichts für Wohnsüchtige. Wir, die so sind, können unser Umfeld ziemlich fordern, weil „fertig“ ein Begriff ist, der in unserem System einfach nicht existiert. So wie ich mich stets als unfertig empfinde, weil ich mich immer weiterentwickeln will, so verstehe ich auch meinen Wohnraum. Nie fertig. Reise nicht um anzukommen, richte nicht ein, um fertigzuwerden. Mein Leben ist stets in Bewegung, mein Wohnen deswegen auch. Wir sind nämlich eins – mein Wohnen und ich.

So kommen neue Menschen hinzu, andere gehen. So gibt es ständig neue Lernthemen, so ergänzen Flohmarktbesuche meine „Kunstsammlung“ (ja echt, da habe ich schon ganz tolle Schätze gefunden!) und der nächste „nur-noch-Lieblingsstücke-Anfall“ sorgt wieder für Luft und Klarheit. Natürlich nur vorläufig.

Für mich gibt es ein zu viel, und auch ganz klar ein zu wenig. Es gibt ein zu perfekt und hier ist das Gegenteil wohl ein achtlos. Und es gibt das „genau richtig“, das schwedische Lagom. Mich darum zu drehen, das ist für mich ein sehr achtsamer Prozess, besser gesagt ein flanierender. Der Flaneur flaniert des Flanierens -, des neugierig Unterwegsseins wegen. Der Flaneur lässt sich anregen, inspirieren - intellektuell und auch ästhetisch - er sucht nicht, er findet. (Sie übrigens auch).

So, wie viele Lebewesen ihre Haut erneuern, so erneuern Wohnsüchtige, ganz natürlich, auch ihre dritte Haut, immer wieder.

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