“Space”

Foto von Gunther Martin

Foto von Gunther Martin

Gerade darf ich an einer sehr schönen Seminarreihe teilnehmen. Wir beschäftigen uns, ganz vereinfacht gesagt, mit unseren Gewohnheiten, auch mit denen, von denen wir „eigentlich“ wissen, dass sie unvernünftig sind.

Eine der Fragen, die gerade erst aufkam und die mich seitdem beschäftigt: Wie ist dein Umgang mit „Space“ - also Raum in jeder Dimension - und wie kann es dir gelingen, jeweils mehr davon zu kreieren? Raum ist schließlich die Bedingung für Entwicklung. Wenn alles vollgestopft ist, kann keine Bewegung passieren.

Also wie viel Raum habe oder schaffe ich in meinem Kalender, in meinem Geist, in meinem räumlichen Umfeld? Wie viel Chance auf Entwicklung räume ich ein?

Eigentlich keine Raketenwissenschaftsfrage, aber sie treibt mich seitdem um. Wie aktiv schaffe ich Platz und wie gehe ich mit frei werdenden Lücken um?

Meine allerallergrößte Herausforderung ist der Kalender. Ganz sonnenklar. Da scheint das biologische Phänomen Osmose zu wirken. Ein Konzentrationsunterschied an der Membran „Zeitscheibe“ wird sofort ausgeglichen. Oder sind es doch eher die kommunizierenden Röhren? Ich bin ja so ein Wissenschaftsdummie und ich habe wirklich gar keine Ahnung, was da mit meinem Kalender passiert. Auf alle Fälle ist es spooky, oder nichts Gutes. Kaum entsteht Space in diesem Ding, füllt es sich eigenständig wieder auf. Es scheint sogar eine ständig ansteigende Konzentrationserhöhung zu geben. Nicht selten finde ich drei parallele Termine zur gleichen Zeit, irgendwann werden es vielleicht fünf oder mehr werden? So ein Irrsinn. In mir hinterlässt das einerseits ein Gefühl von „nicht mehr gut machen“, weil so vieles ungetan und ungedacht bleibt (besser gesagt „abgesagt“ wird), andererseits spüre ich eine wachsende innere Distanz zu dieser fremdgesteuerten „scheinbar-Wichtigkeit“, denn der Kalender ist ja nun eine Abstraktion meiner (fremdbestimmten) Zeit.

Unter Druck entstehen Diamanten, und auch Wärme, so heißt es immer wieder so schön. Manche brauchen Druck, damit sie sich mit der nötigen Veränderung beschäftigen. Soso...

Was entsteht eigentlich, wenn Zeit gepresst wird – ein Konzentrat? Und wenn sie sich pressen ließe, dann würde das Dehnen vielleicht auch funktionieren? Einstein war wohl erfolgreich dabei, aber er war ja auch kein Dummie.

Gedehnte Zeit... ein angenehmer Gedanke: Sich ausdehnende Spaces - mir kommt dabei die Assoziation zu Muskeln. Dehnung nach Anspannung führt zu gesunder Entspannung, zu Flexibilität.

Auch bei der Einrichtung von Räumen gelten ähnliche Regeln, dort soll es eine gute Mischung aus Gruppen von Irgendwas und Freiräumen sein: Eine Gruppierung von Bildern neben freier Wand, ein Tablett mit kleinen Vasen als Gruppe, statt alle gleichmäßig verteilt. Generell mögen wir wohl Umgebungen, die unserem Gehirn das genau richtige Maß an Herausforderungen bieten. Ich jedenfalls kenne das Unwohlbefinden in zu kargen, auch mit Stehrümchen überfüllten Räumen. Diese Sinnlichkeit sollte ich auch im Umgang mit meiner Zeit kultivieren. Das Spüren von genau richtig, oder eben nicht. Gruppenbildung und Freiräume...

Mit einer lieben Freundin teile ich das Bild des „Brennglas oder Giesskanne“. Uns beiden hat es immer wieder inspiriert, die Fähigkeit des Brennglases zu trainieren, um fokussierter, effizienter, messerschärfer zu arbeiten. Aber wer ein Brennglas zu lange auf einen Punkt hält, wird wahrscheinlich Brandflecken erzeugen, oder Schlimmeres. Anstrengung – Dehnung... vielleicht ist das Gegenstück zum Brennglas gar nicht die Giesskanne, sondern eher ein Rasensprenger, einer, der wild und scheinbar keinem Muster folgend durch die Gegend spritzt und Kinder fröhlich jauchzend hindurch rennen? Ja, das Bild gefällt mir noch besser und meine Erinnerung an diese herrlichen, heißen Sommernachmittage lösen ein gutes Gefühl und ein sofortiges Lächeln in mir aus. Kein „um-zu“, nur sein – herrlich.

Ist das Muße? Ein wundervolles Thema, dem ich noch eine weitere Flaniermeile widmen möchte..., aber soviel vorab: Nur Muße schafft diesen Space, damit wir zu einem „Gefäß“ werden können, einem für neue Ideen, für sich neu sortierende Ansichten, für Vertiefung... Dieser bemerkenswerte Zustand lässt sich nur erreichen, im Treibenlassen..., „um die Welt mit Bewunderung und Entzücken zu betrachten“, danke Oscar Wilde für dieses wundervolle Plädoyer für das Flanieren.



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