Die ver-rückte Leiter

Foto von Gunther Martin

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Die für mich wahrscheinlich verrückteste und gleichzeitig verrückendste Stadt bisher überhaupt, ist wohl Jerusalem. Wusstet ihr, dass man ein Jerusalem-Syndrom kennt, also eine kurzzeitige psychische Störung, während deren Dauer sich die Betroffenen sehr hoch mit einer wichtigen religiösen Figur identifizieren? Ich finde das ist schon ein bisschen verrückt.  Mich wundert das aber gar nicht. Diese Stadt macht etwas mit einem. Auch wenn ich bei mir kein entsprechendes Syndrom feststellen konnte, so war ich nie zuvor nach einem Tag Stadtbesuch dermaßen erschöpft. Jerusalem verrückte etwas. Es ver-rückte mich in meiner Urlaubshaltung, mit der ich üblicherweise Städte bereise. Es ver-rückte mein Flanieren, weil ich mich gar nicht ziellos treiben lassen konnte. Es ver-rückte meine offenen Sensoren, weil von Vielem viel zu viel und von manchem einfach zu wenig war. Es ver-rückte meine Neugier und Offenheit, weil ich mich eher schützen wollte. Nicht Leib und Leben, aber mein Innen. Eine Stadt, die so intensiv, interessant, gleichzeitig verstörend ist, fordert alle Sinne und nimmt damit zumindest mir die Leichtigkeit. Und genau die habe ich grundsätzlich vermisst, eine Leichtigkeit der Stadt. Das „always look on the bright side of life“ habe ich nirgendwo empfunden.

Was mir begegnete war ein Gedränge von Touristen, Pilgern und Verkäufern, gewürzt mit allerhand Gerüchen und Geräuschen. Grundsätzlich ähnliche Szenen wie auf orientalischen Basaren, aber die Komponente „singende und klagende Pilger“ auf der Via Dolorosa war neu und wirklich etwas fremd. Das kannte ich bis dahin nur aus dem „Leben des Brian“. Neben all dem spielten arabische Kinder Fußball, spazierten tief in die Diskussion vertiefte orthodoxe Juden. Nicht zu vergessen die überall anwesenden Polizisten, bewaffnet mit Maschinengewehren.

Ich liebe interessante Bilder, Spannungen, die entstehen, wenn scheinbar nicht zueinander Passendes zusammenkommt. Und ich liebe gutes Essen. Jerusalem ist für mich in vielerlei Hinsicht die verrückte Hauptstadt der Koexistenz von Widersprüchen.  Ein Schmelztiegel der Kulturen und der Kulinarik, wohl weil Jerusalem ein Pilgerort ist und an der Schnittstelle von Europa, Asien und Afrika liegt. So ziehen seit Jahrhunderten unzählige Menschen von überall hier durch, hinterlassen etwas, nehmen etwas mit und verändern immer und immer wieder.

Ich war zwar mittendrin, schaute aber gleichzeitig wie durch ein Brennglas und beobachtete, was auf allerengstem Raum zusammenkommen kann: Glaube, Politik und irgendwie Alltag. Die Altstadt von Jerusalem ist nur einen Quadratkilometer groß, besser gesagt klein, gehört zu den „umstrittenen Gebieten“ und hier prallt erlebbar alles aufeinander. Die ganze Zerrissenheit der Region ist auf dieser kleinen Fläche als Konzentrat spürbar.

Auch wenn es den dort lebenden Menschen sicher „normal“ erscheint, diese Intensität, so wirkt das ganz gewiss auf viele. Ein Dauerstress, der untergründig rumort, beansprucht die Nerven kontinuierlich. Es muss doch etwas mit den Menschen machen, wenn Verlustängste so real sind, wenn Unruhe von allen Seiten droht. Gelassenheit zu bewahren ist da wahrscheinlich gar nicht so leicht, latente Aggression hingegen schon.

So wie die Religionen sich die Stadt teilen, so ist es auch in der Grabeskirche. Als sichtbares Sinnbild für Uneinigkeit steht draußen an der Fassade über dem Hauptportal eine Leiter, eine „unverrückte, verrückte Leiter“, seit über 200 Jahren. Da hatte doch seinerzeit irgendein Mensch einfach mal die Fenster putzen wollen, so ganz alltäglich, wurde dann aber daran gehindert, weil ja gar nicht klar wäre, wer überhaupt für diese Fenster zuständig sei. Und so steht diese Leiter… und steht. Ein verrücktes Beispiel der irritierenden Gleichzeitigkeit von Religion, Rechthaben und Alltag.  Einer irritierenden Gleichzeitigkeit von gemeinsam und entzweit. Es gibt hier keine einfachen Wahrheiten. Es gibt keine Klarheit. Es gibt kein einfaches Votum für oder gegen… Das fordert Widerspruch.

Jerusalem, du verrückte Stadt.

„Sie liebt mich… sie liebt mich nicht… sie liebt mich…“

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