Standbein und Spielbein

Foto von Gunther Martin

Foto von Gunther Martin

„Stop starting, start finishing“, diese, für mich gefühlte, Kampfansage war ein erinnerungswürdiges take away bei einem agilen Training. Weiß ich doch von mir, dass ich vor allem stark in den Anfängen bin. Neues zu probieren, neue Projekte zu starten, das finde ich klasse. Das fällt mir dann auch ganz leicht, mich mit Energie reinzuwerfen und auch andere dafür zu mobilisieren. Mit fortlaufender Zeit kann es dann aber leider passieren, dass mein Interesse sinkt, oder aber auch neue attraktive Alternativen am Horizont auftauchen. Der immer wieder neue bunte Blumenstrauß an Möglichkeiten ist einfach zu schön. Es liegt auf der Hand, dass diesem, meinen Persönlichkeitsmerkmal, Fluch und Segen inne sind.

Inzwischen bin ich alt genug, anzuerkennen, dass es ist, wie es ist, ich aber auch einen starken freien Willen habe und durchaus nicht nur Opfer meiner Reflexe sein muss. Reflexion und Rituale helfen mir dabei.

Gewohnheiten sind in unserem Gehirn gebahnt, wie Autobahnen; umso öfter und intensiver wir Bestimmtes wiederholen, desto breiter wird die Bahn. Mit der Zeit entwickelt sich da ein Feldweg zum sechsspurigen Highway. Wenn ich also Verhalten verändern will, muss ich eine neue Gewohnheit etablieren, also ein neues Verhalten immer und immer wiederholen. Um dahin zu kommen brauche ich Reflexion, danach helfen mir Rituale. Ganz einfach.

Rituale sind großartig, halten sie Familien zusammen und helfen sie beim Einschlafen von Kleinkindern. Als working mum hatte ich zum einen immer furchtbar viel auf der Liste, zum anderen war und bin ich einfach auch gerne Mami. Und so habe ich mit meinem kleinen Söhnchen besondere Rituale gepflegt. Natürlich unser Zubettgehritual, unser Peter und der Wolf-Ritual, nicht zu vergessen unsere Autoroutine: Sobald ich den Motor startete musste ein bestimmter Popsong laufen, sehr, sehr laut. Ich schmunzele sofort, wenn ich an das vor Wonne quiekende Baby denke. Rituale haben uns beiden gutgetan. Er mag es noch heute, das bestimmte Dinge bleiben, wie sie waren. Standbein und Spielbein.

Wer offen und neugierig in die Welt geht, der braucht auch eine sichere Basis, ein zu Hause. Das ist ja nicht nur ein Ort, sondern vor allem eine Anhäufung von Ritualen: Das Glas Sekt zur Begrüßung nach längerer Zeit, die selbstgebackenen Brötchen zum Sonntagsfrühstück, die gemeinsame Martinsgans am 11.11., nicht zu vergessen das schrullige Haustier, das mit gut eingeübten Macken ein Haus zu einer sicheren Basis macht. Wurzeln und Flügel – beides gleichzeitig, beides gleich wichtig. Spielbein braucht Standbein.

Rituale nehmen Stress, denn in ihrer Sicherheit und Vorhersehbarkeit liegt etwas Entlastendes. Außerdem sparen sie Energie, weil die Entscheidung für oder gegen entfällt.

Mir retten Rituale den Tag und noch viel, viel mehr. Ich würde wohl vor lauter Kreativität gar nichts auf die Straße bringen. Standbein und Spielbein. Würde ich mir nicht ziemlich strikte Strukturen bauen, ich wäre verloren in den herrlichen Möglichkeiten.

Gleichzeitig könnte ich mir vorstellen, dass anders aufgestellte Menschen eine ähnliche Praxis entwickeln sollten, nämlich umgekehrt das Spielbein zu entwickeln. Ich fänd das jedenfalls fair.

Previous
Previous

Mathematik für den Geist

Next
Next

#übersichhinauswachsen #untersichdrunterschrumpfen