Stolz und Vorurteil

Foto von Gunther Martin

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Vor einem Jahr war ich halbdienstlich in den USA. Es hatte mich bis dahin noch nicht dahingezogen. Obwohl ich neugierig auf so Vieles bin, irgendwas bremste mich stets. Zugegebenermaßen pflege ich wachsende Vorurteile. Wie konnte ein Volk einen solchen Präsidenten wählen? Wie kann man so achtlos mit Plastik umgehen, wie kann man 18-Jährige in den Krieg schicken und ihnen eine Waffe in die Hand geben, aber ein Bier erst mit 21? Was macht ihr aus guten Zutaten für komisches Essen? Wie kann Rassismus immer noch so verbreitet sein? Da gäbe es noch viele Aspekte zu ergänzen und all die haben es mir ziemlich leichtgemacht, Vorurteile zu pflegen und in die Ablehnung zu gehen.

Ich bin Europäerin und stolz, ja stolz auf so Vieles in Europa. Kultur, so viel Schönheit, Kulinarik, wachsendes Umweltbewusstsein, Sicherheit.

Ich bin also in die USA gereist, genau genommen nach Kalifornien, wohlwissend, dass es natürlich kein repräsentativer USA-Durchschnitt ist. Und ich weiß auch, dass ich in meinem Umfeld wahrscheinlich die Letzte bin, die eine solche Reise gemacht hat. Ich will und werde mich hier also nicht als große USA-Erklärerin geben, das wäre Quatsch, mir geht es nur um meine persönliche Reflexion.

Am erstaunlichsten empfand ich es sofort, mit welcher Offenheit mir alle Menschen begegneten. Egal wo, egal wer, immer ein paar freundliche, verbindliche Worte. Als Menschen-Mensch hat mich das natürlich geflasht. Ich habe wahrgenommen, was es für mich für einen riesigen Unterschied macht, so positive Resonanz zu erleben. Ja, natürlich ist das oberflächlich – ja und? Natürlich weiß ich, dass die Verkäuferin nicht meine Freundin werden möchte und der Kellner auf Trinkgeld hofft. Aber das habe ich wirklich als riesigen Kulturunterschied erlebt, vor allem zu Deutschland. Hier scheinen doch alle mehr oder weniger muffelig, und besonders krass dabei, es als völlig normal und selbstverständlich zu empfinden. Jeder hat sein Recht auf schlechte Laune. Und der Umgang mit neuen Ideen scheint auch besser. Selbst wenn es nicht meine Meinung ist, so lasse ich dir deine und finde eine neue Idee auf alle Fälle erstmal wertvoll, erstmal gut. Das gefällt mir.

Dieses „yes, we can-Lebensgefühl“, Positivismus und Selbstverantwortung, das alles hat mich extrem angesprochen. Und natürlich die Natur – Hammer. Jedoch auch hier ein kleines Moll: Warum nur verschandelt ihr die ganze Landschaft mit diesen unterirdischen hässlichen Werbeplakaten, auf denen zu 90 % Anwälte zu werben scheinen… Auch wenn ich nur einen winzigen Ausschnitt dieses riesigen Landes gesehen habe, so muss ich einiges in meinem mentalen Modell zurechtrücken, anderes aber nicht. Licht und Schatten wie überall. Dieses offenbar ausgeprägte Bedürfnis nach „great again“ und „No. 1 in the world“, das gefällt mir nicht, und dass in einem so reichen Land so viele krasse Unterschiede sichtbar sind, auch nicht. Dass die Starken für die Schwachen Verantwortung haben sollten, das scheint ein europäischer Wert. Der bedeutet mir viel.

Wenn ich in einem anderen Land bin, dann stelle ich mir irgendwann immer mal die Frage, wie es wäre, dort zu leben und ob ich vielleicht Lust darauf hätte. Die kalifornische Küste ist gewiss nicht der schlechteste Ort, für viele vielleicht sogar best place to be – nicht für mich. „Big little lies“ oder auch „Baywatch“ haben sicher dazu beigetragen, Kalifornien positiv aufzuladen. Unendlicher Strand, ewiger Sommer, Surfer, schöne Körper, Wohlstand… aber ganz ehrlich, so eine italienische oder französische Küste ist, mindestens von den Orten her, einfach hübscher… und die Küche ist ja wohl viel besser.

Mein Vater, begabter Ingenieur und Handwerker, resümierte seine 30 Jahre zurückliegende Reise in den amerikanischen Westen: Die haben dort sehr schlechte Fenster. Das war und ist ein running gag in unserer Familie. Aber ich bin ja nun mal seine Tochter und jetzt kann ich ihm zustimmen. Überall Pfusch am Bau :-). Selbst ein neues, gutes Hotel wirkt schrummelig. Überhaupt war ich sehr erstaunt über die Bauweise. Alles nur Grobspanplatte, keine gemauerten Wände. Zuerst fragte ich mich, wie nachhaltig das wohl wäre, bzw. fand es überhaupt nicht nachhaltig… dann aber kam ich dazu, dass unsere Art, jedes Haus für die Ewigkeit zu bauen, eigentlich auch Quatsch ist. Diese Bauweise steht ja auch für eine Denk- und Lebensweise. Von diesem Saddler-Gen, heute hier, morgen dort, könnten wir etwas mehr vertragen. Würde es uns vielleicht mutiger, flexibler und weltoffener machen.

Selten bin ich so konfrontiert worden mit meinen eigenen Vorurteilen. Immer wieder habe ich mich zwingen müssen, richtig hinzuschauen. Licht und Schatten wie überall. Aber viel mehr Licht als ich erwartet hatte.

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